Guten Abend, meine Damen und Herren,

der Traum von dieser Doppel-Ausstellung reicht lang zurück. Ich weiß kaum noch, wie lang ich es schon höre und auch selber denke, dies „Man könnte mal...“, „Man sollte doch...“, „Es hätte längst schon mal...“. Et cetera. Nur eines weiß ich noch recht gut: Wie Christian Poitsch schon bei den allersten Sitzungen zur Vorbereitung des Bad Aiblinger Jubiläumsjahrs 2004 zwei Ausstellungen als zwingend unverzichtbar für dies Jubiläum angeregt und vorgeschlagen hat: Erstens: eine umfassende Retrospektive Brynolf Wennerbergs, in der auch und vor allem jene Perspektive seines Schaffens sichtbar werden sollte, die in Aibling weitgehend verborgen und vergessen blieb: jene des Pioniers der Werbegraphik. Des Designers, der aus Markennamen wie Persil und Maggi das gemacht hat, was wir heute immer noch, gut hundert Jahre später, damit assoziieren. Zweitens aber: eine Gemeinschaftsausstellung Hermann Urban - Aziz Raza, in der auch und vor allem sichtbar werden sollte, wofür beide - hierzulande wenig wahrgenommen, aber doch mit ganzer Energie - einstanden: die Maltechnik, das Malmaterial, der Malgrund, das Verfahren der Enkaustik.

Es war durchaus zufällig - und dennoch für Bad Aibling seltsam typisch - daß ausgerechnet aus diesen beiden Projekten, die doch Kernstücke des Jubiläums hätten werden sollen, nichts geworden ist; zumindest nicht im Jubiläumsjahr (ein Schicksal allerdings in guter Nachbarschaft: ein Schicksal, das sie - zum Beispiel - mit der langersehnten Jubiläums-Chronik teilen).      

Nun, gemach, es kommt. Und bleibt doch ein Versprechern eben auch. Denn manchmal will das Schicksal es ganz anders. Durch die ebenso große wie großartig generöse Stiftung, mit der Gabriele Raza der Stadt Bad Aibling einen umfassenden Nachlaß Hermann Urbans und ein kleines, aber auserwähltes OEuvre Aziz Razas zu getreuen Händen übergab, bekam die Ehrenpflicht Vorrang vor dem gedachten Wunschprojekt. Was wir an diesem Abend hier eröffnen, ist die Dank-Ausstellung dieser Aziz-Raza-Stiftung, die Gedächtnisausstellung für zwei Aiblinger Künstler. Die geplante Themenschau zur malerischen Technik aber steht auch weiter aus. Was ich hier nicht etwa beklage, sondern freudig annonciere. Denn es wird - in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft - eine weitere, verwandte und doch gänzlich andere Urban/Raza-Ausstellung geben und geben müssen. Keine über Bilder. Sondern eine darüber, wie man Bilder macht.

Warum ich darauf so ausdrücklich insistiere? Weil man Hermann Urbans Werk und fast noch mehr das Werk von Aziz Raza gar nicht würdigen, verstehen und ermessen kann, wenn man nicht das Ringen um die Technik als zentrales Agens ihres Schaffens miterwägt.

Ich brauche dies nicht zu behaupten; es ist eine Binsenweisheit. Wenn Sie zum Beispiel den bewährten Thieme-Becker aufschlagen, das noch immer größte, kompetenteste, mit 37 Bänden umfangreichste Lexikon der internationalen Kunst, dann lesen Sie bei Hermann Urban folgendes: „Malt, von Böcklin beeinflußt, besonders Monumentallandschaften in Tempera und Enkaustik. Machte sich durch seine maltechnischen Untersuchungen einen Namen.“ Und als Hans Heyn vor drei Jahren seinen Nachruf auf Aziz Raza schrieb (Sie können ihn im Katalog nachlesen), da galt einer der ersten und der letzte Absatz nicht etwa dem Künstler, sondern dem Kunsttechniker und Forscher - und damit zugleich dem Urban-Großneffen Raza: „Entscheidend für den Lebensweg wird für Raza der aus dem mütterlichen Familienkreis kommende Maler Hermann Urban und dessen empirisches, aus Beobachtung und Experiment entstandenes Werk.“ Und dann, zu seinen Techniken: „Wie die enkaustischen Malereien der Antike sollten sie den Farbgehalt der Bilder sichern. Hermann Urban hat 12.000 Rezeptaufstriche für Malgründe hinterlassen. Zu welchen Resultaten Aziz Raza während der letzten Jahre gelangte, ist in den Computer getippt, als Band I fertiggestellt. Das Vorwort hierzu muß nunmehr ein anderer schreiben.“

Verehrte Damen und Herren , ich maße mir nicht an, hier dieses Vorwort nachzuholen. Ein paar Sätze dazu mögen Sie dennoch gestatten. Beginnen wir mit einem Schreckwort: der Enkaustik. Was bedeutet das? Nun, als zu Goethes Zeiten mit der Ausgrabung von Pompeji ein immenses Interesse für die Kunst der klassischen Antike einsetzte (ein Interesse, das im Stil des Klassizismus kulminierte), rücken auch Berichte von antiken Autoren wie Plinius und Vitruv in neues Licht, die römisch-griechischen Maler hätten damals mit enkaustischem, also erhitztem Wachs  gearbeitet und damit jene unglaubliche Präsenz und Leuchtkraft hergestellt, die uns heute an pompejanischen Wandbildern ebenso begeistert wie an den antiken Mumienportraits. Und es war ausgerechnet unser Bayernkönig Ludwig I., der sich leidenschaftlich für die Wiederbelebung dieser Technik einsetzte und immerhin einen Carl Rottmann und einen Schnorr von Carolsfeld animierte, diese weitgehend verschollene Technik zu rekonstruieren - gemeinsam übrigens mit dem Maler, Schriftsteller und Naturwissenschaftler Franz Xaver Fernbach, dem Ludwig eigens zu diesem Zweck ein Chemiestudium finanzierte (heute gilt Fernbach als der eigentliche Wieder-Erfinder der Enkaustik). Das heißt aber auch, es gab im München zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Art europäisches Zentrum der Enkaustik-Forschung. Und tatsächlich kunstreif wurde das Verfahren dann für Arnold Böcklin. Und für dessen größten Bewunderer und künstlerischen Erben, Hermann Urban (ein studentisches Scherzgedicht lautete damals: „Der Böcklin ruhig sterben kann, es lebet ja der Uhurban“).

Womit wir beim zweiten Thema wären. Wenn Sie heute ein Bild malen wollen: was tun Sie da? Nun, Sie gehen vermutlich in ein Fachgeschäft für Malereibedarf. Sie kaufen eine fertige, grundierte Leinwand. Und sie kaufen industrielle Tubenfarben. Und Sie wundern sich, warum Ihr Bild, wenngleich sonst wohlgelungen, eben doch niemals die Leuchtkraft, Tiefe und Vieldeutigkeit des Timbres annimmt wie die alten Meisterwerke. Nun, ganz einfach: weil mit Industrieprodukten letztlich auch nur Industrie-, sprich Einheits-Resultate möglich sind.

Etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts gibt es diese Fertigprodukte. Spätestens ab 1870 sind sie allgegenwärtig. Und am Anfang wurden sie von den  meisten Künstlern begeistert begrüßt als Erlösung von der Mühsal des Grundierens, Farbenreibens und Anrührens. Aber spätestens ab 1890 wurde deutlich, daß man mit den neuen Töpfen und Tuben sozusagen die Farbbüchse der Pandora geöffnet hatte. Daß die Industriepigmente - speziell in der damaligen, in ihrer Langzeit-Haltbarkeit noch völlig unerprobten Qualität - die blanke Katastrophe waren. Sie dunkelten dramatisch nach bis hin zur Schwärze. Sie wellten, rissen, rutschten von der Leinwand. Seither leben Generationen von Restauratoren davon, all jenes irgendwie zu retten und zu konservieren, was damals verbosselt wurde. Während Altdorfers und Dürers Farben heute noch immer halten und leuchten wie am ersten Tag. Nur, deren Handwerks-Kunst war mittlerweile gerade für junge Maler fast so ferngerückt und rätselhaft wie die der römischen Enkaustik.

Ich glaube, daraus wird nun klar, worum es geht. Warum ein Hermann Urban aus dem Sumpf der industriellen Farben zu entrinnen suchte. Warum er mit allen Kräften kämpfte, den Farben ihr Licht, ihr Strahlen, ihre Dauer wiederzugewinnen. Warum künstlerisches Schaffen, schöpferisches Formen für ihn zwingend mit dem selbst Erschaffen des notwendigen Handwerkszeugs zu beginnen hatte. Warum er gewissermaßen als ein Credo formulierte: „Der Malgrund ist das Schicksal des Bildes“. Also nicht die Kunst, das Thema, die Gestaltung - nein: der Malgrund. Und warum möglicherweise jenes im Computer Aziz Razas deponierte Buch „Der Malgrund“ nicht bloß irgend eine Marotte darstellt, sondern eine schöpferische Leistung, die an Wertigkeit und Rang den hier gezeigten Bildern zumindest gleichkommt.

Denn, meine Damen und Herren (und das weiß vielleicht nicht jeder): Seit rund achtzig Jahren gibt es speziell in Fragen der Grundierung und der Farbbehandlung nur drei anerkannte Autoritäten: Max Doerner, der 1921 das bis heute gültige, in mittlerweile 20 Auflagen immer wieder erweiterte und verbesserte Standardwerk „Malmaterial und seine Verwendung im Bilde“ herausgebracht hat. Sodann Kurt Wehlte, dessen 1928 erstmals erschienene „Ölmalerei“ zusammen mit den Folgebänden über Tempera und Grundierung zum Grundwissen für ganze Künstlergenerationen wurde. Und schließlich und vor allem Hermann Urban, bei dem beide sich ihr Rüstzeug holten. Weshalb sie im großen Doerner heute bei den wichtigsten Rezepturen in aller Regel drei Angaben finden: Mischungsverhältnis nach Urban; Mischungsverhältnis nach Wehlte; Mischungsverhältnis nach Doerner.

Verstehen Sie jetzt, warum ich auf diesem Thema so ausführlich herumreite? Weil hier in unserem Aibling ein genialer Künstler-Wissenschaftler empirische Grundlagen setzte, nach denen seit hundert Jahren weltweit Bilder geschaffen werden. Und weil hier in Aibling möglicherweise ein Werk im Computer schlummert, das es nötig machen könnte, in Zukunft den Namen Urban, Wehlte, Doerner noch einen weiteren: den Namen Raza anzufügen.

Womit es denn endlich an der Zeit ist, von den eigentlichen Künstlern Urban und Raza auch zu reden.

Meine verehrten Damen und Herren, bei unseren, also meiner Frau und meinen Recherchen für das Aiblinger Künstlerbuch kam uns ein Zeitungsblatt des wirtschaftlichen Schreckensjahres 1920 in die Hände: eine Empfehlung der „Zeitung für Handel und Industrie“ an ihre Leser betreffend krisenfeste künstlerische Wertanlagen. Elf Namen umfaßte dieses Liste; elf Namen, die damals wie heute zu den Leuchtfeuern der Münchner und süddeutschen Kunst gehören: Lenbach, Uhde, Diez, Habermann, Menzel, von Keller, Zügel, Leibl, Böcklin, Kunz - und Urban. Klarer kann man Hermann Urbans Rang wohl kaum beschreiben.

Sagen muß man auch, daß er ein Halbjahrhundert Kunstgeschichte mitgeprägt hat. Daß er zunächst Böcklins Stil und Farbigkeit derart vollkommen weiterführte, daß er wie selbstverständlich als dessen Nachfolger und Erbe angesehen wurde. Daß er sodann als einer der führenden Graphiker der Münchner Zeitschrift „Die Jugend“ jenen Stil, den wir heute ganz selbstverständlich als den Jugendstil bezeichnen, mitgeprägt und miterfunden hat. Daß er es war, der zwischen 1907 und 1918 für den Münchner Raum jenen entscheidenden Durchbruch aus dem trüben Atelierton in die gleißend reine Helligkeit und Farbigkeit vollzog, den ihm die französischen Impressionisten vorgegeben hatten und der seinen Zeitgenossen damals wie ein Schock erschien (es gibt Zeitungsartikel jener Tage, die berichten, daß man buchstäblich geblendet wurde, wenn man damals in Ausstellungen aus der trüben Sauce des allgegenwärtigen Atelierstils endlich den Urban-Saal betrat). Daß er später dann - vom Licht ausgehend - auch das Dunkle in der Malerei gleichsam ganz neu zurückgewann. Daß er - und auch das sei nicht verschwiegen - zu den Lieblingsmalern der berühmt kunstsinnigen Wittelsbacher ebenso zählte wie zu denen Adolf Hitlers, aber beides mit gleich souveräner Distanz zu tragen und zu ertragen wußte. Kurz: Wir reden nicht nur von einem Künstler und Kunsttheoretiker - wir reden von einer Gestalt der Zeitgeschichte. Die Stadt Bad Aibling hat mit dem umfassenden Nachlaß und mit dem verwirrend umfangreichen, weitgehend unausgewerteten Material im Archiv des Heimatmuseums nunmehr alles in der Hand, um diese Gestalt von neuem faßbar und lebendig zu machen. Es ist ihr damit eine stolze, schwere Verpflichtung aufgeladen. Und die heutige Eröffnung ist davon nicht etwa der vorläufige Endpunkt, sondern nur allererste Initiale.

Aziz Raza hat sich alle erdenkliche Mühe gegeben, zu einer solchen öffentlichen Gestalt der Zeitgeschichte nicht zu werden. Es ist ihm nicht gelungen. Wer ihm auch nur einmal begegnet ist, der wird ihn nicht vergessen. Aber: er hat sich in der Kunst zunehmend rar gemacht, hat sich zurückgezogen, hat sein Forschen, sein Talent versteckt. Ich weiß noch gut, wie zunehmend schwierig es ab den achtziger Jahren war, an Bilder von ihm, geschweige denn an eine ganze Ausstellung zu kommen. Man ahnte immer mehr, als daß man wirklich wußte, was ihn künstlerisch gerade umtrieb. Und was man dann sah, war immer unverkennbar, aber immer auch ganz anders, überraschend.

In dieser schönen Ausstellung wird das - auch dank zahlreicher Leihgaben - schlagend erkennbar, in seinen Linien wie in den Widersprüchen nachvollziehbar. Da gab es etwa die Zeit der berühmten „Istrischen Impressionen“ Mitte der Siebziger, als Peter Tomschiczeck, Heinz Kaufmann, Dr. Günther Weigel, Rolf Märkl und er gemeinsam eine Art private Sommerakademie installierten, ein Kunst-Team, in dem es dann tatsächlich auch untereinander abfärbte, in dem jeder zwar seine Identität behielt, und trotzdem jeder gleichsam die Gestimmtheit der vier anderen akkordisch in den Bildern mitschwingen ließ. Da gab es die Zeit, als Aziz Raza uns mit einem nüchternen, fast schon extremen Realismus überraschte. Einem Realismus, wie ihn hier bei uns als Landschafter höchstens noch Rudolph Distler - sonst weiß Gott ein Antipode - pflegt. Da gab es, von einem scheinbar harmlosen Aquarell ausgehend, jene irre kühnen Ackerbilder mit dem Horizont am allerobersten Bildrand, wo die Erdstruktur, Erdfarbe, Furchenperspektive zum absoluten, fast schon abstrakten Thema wurde (Andreas Legath erhielt hier offenkundig manche prägende Inspiration). Da gab es - ganz früh und dann wieder ganz spät - verstörend mystische und zeichenhafte kabbalistische Bilder, gab es grimmig Verspieltes, Surreales wie von einem schrankenlos gewordenen Toni Waim. Alles das war Aziz, und wir hatten damals und wir haben heute immer noch Mühe, es zusammenzudenken und zusammenzusehen.  

Wie ein Rettungsanker schienen darin seine Urban-Bilder. Die waren eine Konstante: Diese Versuche, Hermann Urbans Kunst in einer Art Reinkarnation nochmal ins Leben zu bringen. Die selben Heumandeln vor dem Wendelstein nochmal zu malen. Nochmal die italienischen Felsenburgen. Nochmal das Gewitterlicht. Gleichsam mit Urbans Blick, mit Urbans Farben, Urbans Licht - und doch ganz anders, eigen, aus dem härter konturierten Selbstgefühl des späten 20. Jahrhunderts.

Auch diesen Künstler kann man jetzt erst, ganz allmählich, neu entdecken, neu bewerten. Und auch dafür ist die heutige Ausstellung nur eine Initiale, nur ein Anfang.

Als wir, meine Frau und ich, vor knapp einem Jahr das besagte Aiblinger Künstlerbuch vorstellten, wurden wir nicht müde, zu betonen, auch dieses Buch sei nicht etwa ein Abschluß, sondern nur ein tastend allererster, vorläufiger Anfang Aiblinger Kunstgeschichtsschreibung. Das mag manchem damals ein bißchen kokett geklungen haben. Der heutige Tag, so denke ich, hat nun die Chance, klarzumachen, wie es denn gemeint war. Wie viel an Abstand zwischen  unserem tatsächlichen Wissen und dem Wünschenswerten, ja selbst Grundnotwendigen des Wissens liegt. Nicht nur bei Urban und Raza. Doch bei ihnen eben auch. Dies die Botschaft. Was Sie daraus machen, liegt an Ihnen.

Danke schön.

KJS